Montag, 25. Januar 2016

Freie Schule Bredelem ‒ Dorfschule mit Weltblick


Vorbemerkung: Diesen Artikel hatte ich für das Internet-Magazin "Meine-Region.de" geschrieben. Nach dem Wechsel des Betreibers der Seite konnten wir kein Einvernehmen über die Neugestaltung des Autorenvertrags erzielen. In der Folge davon wurden meine Artikel dort gelöscht. Damit sie nicht verloren gehen, veröffentliche ich diesen Artikel an dieser Stelle.

Vielerorts werden kleine Dorf-Grundschulen wegen sinkender Schülerzahlen aufgegeben. Die Freie Schule Bredelem dagegen zeigt, dass eine Mini-Schule sehr erfolgreich arbeiten kann und den Kindern ausgesprochen gut tut.


Hamburg 1990. Was für ein Theater. Damals, als wir - eine Gruppe engagierter Eltern - uns dafür einsetzten, dass unsere Kinder bei der Einschulung in die Klasse einer fortschrittlichen Lehrerin kommen. Die Schulleiterin rief Zeter und Mordio und die Schulbehörde auf den Plan: Wo kommen wir denn da hin, wenn Eltern sich die Lehrerin ihrer Kinder aussuchen dürfen?

Nach Bredelem zum Beispiel.

Bredelem: Ein kleines Dorf mit 500 Einwohnern und weitem Blick (bei guter Sicht bis zum Brocken), Ortsteil von Langelsheim im Landkreis Goslar. Bereits Mitte der 1970er wurde die Grundschule dort als zu klein befunden, um im staatlichen Schulwesen überleben zu dürfen. Und doch konnte ich mich nun auf den Weg machen und in Bredelem eine kleine, aber sehr lebendige Grundschule besuchen.

Schule mit sonniger Ausstrahlung


Ich fahre mit dem Bus. Die Bushaltestelle ist nur wenige Minuten von der Schule entfernt, die Strecke auch für Kinderbeine locker zu schaffen. Ich staune über die großen Höfe längs des Weges und freue mich, dass es hier noch ein Lokal und freilaufende Hühner gibt.

Mittendrin liegt die Freie Schule Bredelem. Das Gebäude mit der Holzfassade in sonnigem Honiggelb, blauen Fensterrahmen und bunten Buchstaben wirkt einladend. Hätte ich keine Fotos gemacht, auf denen der Himmel nur in Grau erscheint, hätte ich mich im Nachhinein wohl an einen sonnigen Tag erinnert. Was auch an Farben und Atmosphäre im Inneren der Schule liegt.

Die Geschäftsführerin Verena Bauer winkt mir schon durchs Fenster zu. Das Büro teilt sie sich heute mit einer jungen Frau, die im Rahmen ihres “Freiwilligen Ökologischen Jahrs” (FÖJ) hier ist. Ökologisch? Einen winzigen Moment stutze ich ‒ im Zusammenhang mit Schule hätte ich wohl zuerst ein Soziales Jahr erwartet. Aber logisch, diese Schule ist ja mehrfach ausgezeichnet ‒ für ihr Engagement im Bereich Umwelterziehung und in der “Bildung für Nachhaltige Entwicklung” (BNE) zum Beispiel.


Gründung in der UN-Weltdekade zur “Bildung für nachhaltige Entwicklung”


Die Entstehungsgeschichte der Schule liest sich kurz: Zwei Frauen (eine davon Verena Bauer aus Bredelem) beschließen im Jahr 2004, eine freie Schule ins Leben zu rufen und gründen zu diesem Zweck den gemeinnützigen Trägerverein “Bildung, Leben und Natur e.V.”. Ein Jahr später beginnt die Weltdekade der Vereinten Nationen zur “Bildung für Nachhaltige Entwicklung”. Die beiden Frauen orientieren sich daran, als sie das pädagogische Konzept entwickeln. Offensichtlich überzeugend, denn auf dieser Grundlage gewinnen sie weitere Unterstützer. Ein Projektteam organisiert die Finanzierung und bringt die Schule an den Start. 2007 werden die ersten Kinder eingeschult, damals noch in Räumen der heutigen Oberschule in Langelsheim. Parallel zum Schulbetrieb beginnen die Vereinsmitglieder mit dem Bau ihres eigenen - unter ökologischen Aspekten gestalteten - Schulgebäudes in Bredelem. 2010 ziehen die Schulkinder dort ein.

Mir ist bewusst, dass das, was hier so easypeasy einfach klingt, ein riesiges Stück Arbeit war. Respekt.

Nun aber bin ich gespannt auf die Kinder. Wird das Besondere an dem pädagogischen Konzept bei meinem Kurzbesuch spürbar sein? Werde ich gleich merken, dass “Freie Schule” mehr ist als nur der Hinweis, dass diese Schule sich in freier Trägerschaft befindet?

Schule mit Gefühl


Ja. Ich merke und sehe es ‒ im selben Moment, in dem ich den Unterrichtsraum betrete. Neben der Tür hängen sechs kleine Plakate in unterschiedlichen Farben mit je einer “Zustandsbeschreibung” wie glücklich, aufgeregt, ausgeglichen, traurig, müde, ärgerlich. Kinder und Lehrkräfte haben ihre heutige Verfassung mittels Wäscheklammer (auf der jeweils der Name steht) markiert. Im Morgenkreis gibt es die Gelegenheit, mehr darüber zu erzählen. Das passt zu dem, was ich zuvor am Rande kurz mitbekommen hatte: Eine Schülerin sitzt mit einer Lehrkraft zusammen und beantwortet deren Fragen wie “Fühlst du dich an unserer Schule wohl? Hast du viele Freunde? Bist du eine gute Freundin? Hältst du dich an die Regeln? Sprichst du gern vor der Gruppe? Fragst du nach? …” Die Antworten werden ‒ falls es deutliche Differenzen zwischen Selbsteinschätzung und Wahrnehmung durch die Pädagogen geben sollte ‒ später mit dem Kind besprochen. Ich muss an meine eigene Schulzeit denken. Es hätte sicher vielen von uns gut getan, wären wir mal Ähnliches gefragt geworden.

Lernziel Selbstsicherheit


Die Atmosphäre im Unterrichtsraum beeindruckt mich: Alle 18 Schüler/innen der Schule sitzen gruppenweise an Tischen und arbeiten konzentriert an der Aufgabe, die jeder für sich der eigenen “Ich-kann-Mappe” entnommen hat (die Mappe enthält alle Fertigkeiten, über die ein Kind nach Ablauf der vier Grundschuljahre verfügen sollte). Mittendrin erspähe ich zwei Lehrkräfte, auf Augenhöhe mit den Kindern sitzend. Die Klassenstufen 1 bis 4 sind bunt gemischt, alle arbeiten hier generell klassenübergreifend. Nur einmal pro Woche treffen sich die Erst- bzw. Viertklässler separat ‒ die Jüngsten zum Lesenlernen, die Ältesten zur Vorbereitung auf die weiterführende Schule.

Wie sehr die Kinder von dieser Mischung profitieren, erlebe ich bei der Präsentation zum Thema “L.A.”: Zwei Jungen - Klassenstufe 1 und 4 - tragen das gemeinsam Erarbeitete vor. Der Jüngere beginnt, trägt vor und heftet dazu passende Bilder an die Magnetwand. Nicht immer gelingt es ihm, die Schrift des Älteren in seinen Notizen zu entziffern. Der Ältere hilft ‒ aber nur dann, wenn sein Partner ihn ausdrücklich darum bittet. Ansonsten hält er sich ruhig im Hintergrund. Alle anderen Kinder haben vor Beginn der Präsentation ein Aufgaben-Kärtchen bekommen ‒ sie sollen den Vortragenden Feedback geben und auf Aspekte wie Verständlichkeit, Lautstärke, Illustration oder Inhalt achten. Ich fasse es nicht. Professionelles Präsentieren in der Grundschule, ab Klasse 1? Auch deshalb wohl glaube ich bei den Kindern dieser Schule eine sehr natürlich wirkende Selbstsicherheit zu spüren.

Lernen, wo das Leben ist


Präsentieren gehört hier zum Schulalltag. In der täglichen Projektzeit nach dem (Bio-)Mittagessen arbeiten die Kinder jeweils drei Wochen lang an einem freigewählten Thema. Ab Klasse 2 decken die Projekte die Bereiche Kunst/Musik, Stadt/Land/Region und Geschichte ab. Ab Klasse 4 kommt noch ein “Syndrom-Thema” hinzu ‒ dabei geht es um die Herausforderungen des globalen Wandels. In der Workshop-Woche arbeiten dann alle gemeinsam an einem Thema zu Energie, Wasser, Erde oder Indien. Und dann gibt es noch den “Draußen-Tag”: Immer Mittwochs findet Schule an einem außerschulischen Lernort statt, also z.B. in einem Museum, einem Theater, beim Tierarzt, in der Natur, etc.


Ich komme ins Schwärmen. Und ja: Die Kinder lernen hier auch Lesen, Schreiben und Rechnen. Aber sie lernen es in ihrem eigenen Tempo und sie nutzen diese Fähigkeiten möglichst früh, um sich die Welt zu erschließen, Zusammenhänge zu verstehen, Konflikte friedlich zu lösen, miteinander zu arbeiten, voneinander zu lernen, … Sie lernen nachhaltig und sie lernen, nachhaltig zu denken und zu handeln.

18 Kinder und deren Eltern u.a. aus Bredelem, Seesen, Salzgitter oder Hahnenklee haben sich für diesen Ansatz von Lernen entschieden ‒ und Bredelem damit sogar einen Zuwachs von drei Familien beschert. Die Eltern gestalten den organisatorischen Teil des Schullebens aktiv mit, sie entscheiden mittels Trägerverein über die pädagogische Ausrichtung und sie finanzieren den Betrieb ihrer Schule über eine (nach Einkommen gestaffelte) Schulgebühr mit. Ungerecht? Bessere Bildung gegen Geld? Nun, vielleicht sollte diese Art zu lernen auch in staatlichen Schulen selbstverständlich sein?

Für unsere Kinder damals, 1990 in Hamburg, ist die Sache übrigens gut ausgegangen: Sie bekamen die fortschrittliche Lehrerin und der gesamte Stadtteil eine hochinteressante Debatte um die Zukunft der Bildung.

Nähere Informationen zur Freien Schule Bredelem unter www.freie-schule-bredelem.de

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